20.06.2005
Route des Grandes Alpes
 
 Route des Grandes Alpes – oder auf Stiener »Seniors« Spuren

Es war letztes Jahr im Spätsommer, als mein Vater mit einer Gruppe von Sportkameraden (Alter 50 - 68) das generallstabsmässig geplante Unternehmen (zwei Begleifahrzeuge und Betreuer!) »Route des Grandes Alpes« erfolgreich bewältigte und so überwältigt und begeistert war, dass ich mir die Tour vom Genfer See nach Nizza, via der höchsten Alpenpässe, einmal genauer ansah und für eine günstige Gelegenheit vormerkte.

Samstag 4. Juni | 75 km - 1.250 Hm
Nach 7 Stunden ermattender Bahnfahrt, wühle ich mich durch das samstägliche Tohuwabohu von Genf. Erst nach 40 Kilometer war das Einzugsgebiet der schweizer Metropole überwunden, auch der Verkehr wurde weniger und ich verleiß das breite Arve Tal um den ersten langen Anstieg der Tour nach la Clusaz hinauf zu klettern. Der Ferienort lag noch im Dornröschenschlaf zwischen Winter- und Sommersaison und ich konnte mich glücklich schätzen, ein offenes Hotel zu finden. Die Sommersaison beginnt erst am 10. Juni…

|Matthias "Senior" Stiener
|Erster Anstieg
|Im Hotel

 
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 Sonntag 5. Juli | 100 km – 2.500 Hm
Drei Pässe galt es an diesem Tag zu bezwingen – oh weh. Der Col des Arvis (1.486 m) begann quasi vor der Haustür, und mit mir erklommen Herrscharen an Rennradlern und »Töffs« die offensichtlich sehr beliebte Passhöhe, mit wunderbarem Ausblick auf das majestätische Montblanc-Massiv. Die erste Abfahrt hinab ins Arly-Tal war noch etwas wackelig – so viele Kurven. Am Col des Saisies gabs kaum noch Radfahrer aber dafür noch mehr »Töffs« und am strapaziösen Comet de Roseland (1.967 m) war ich schließlich der einzige Radler auf der zugigen Passhöhe, aber glücklich diese anspruchsvolle Strecke hinter mich gebracht zu haben. Die ausgesprochen flotte Abfahrt nach Bourg-St-Maurice hinunter war dann ein weiterer Lohn für die ganze Schinderei.

|Col des Aravis
|Anstieg zum Comet Roseland
|"Töff"-Fahrer bewältigen die letzten Höhenmeter aus eigener Kraft…

 
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 Montag 6. Juli | 130 km – 2.600 Hm
Heute sollte es über das Dach der Tour gehen den 2.770 hohen Col d l’ Iseran. So hoch war ich nie mit dem Fahrrad geklettert und wenn es gestern schon auf 2.000 Meter grimmig kalt und anstrengend war… Mit dem entsprechendem Respekt ging ich das Vorhaben an. Das größte Problem war jedoch, dass sich die Aussagen darüber, ob der Pass schon offen ist, alle wiedersprachen. Also bin ich erstmal auf Verdacht die 1.000 Höhenmeter nach Val d’Isere hinaufgefahren. Anstrengend mit teils viel LKW-Verkehr aber gut zu fahren. In Val d’Isere (1.800 m) dann die Auskunft, »ab morgen ist der Pass offen«… Ich habe dann erstmal Kalorien gebunkert und bin dann, wie das gute Dutzend »Töffs« das während meiner Rast an mir vorbeizog, einfach losgefahren. Nach dem grausligen Val d’Isere umfuhr ich noch das »Col fermé«-Schild und empfand die danach folgende karge Hochgebirgslandschaft als reine Wohltat. Völlig allein kletterte ich, unzählige Murmeltiere aufschreckend, die ersten 600 Hm fast leichtfüssig, ja geradezu euphorisch hinauf. Doch dann wurden die Beine langsam schwer, es wurde sehr kalt, fing an zu graupeln und so waren die letzten 300 Hm zum einsamen, stürmischen und verwaisten Passhöhe hinauf eine ziemlich strenge Angelegenheit. Oben ein kurzer Totalstrip – die völlig durchgeschwitzten Klamotten gegen trockene getauscht und alles angezogen was die Packtaschen hergaben. Noch schnell ein »Gipfelbild« – für Hochgefühle ließ das Wetter keinen Raum. Die kamen erst später nachdem ich auch noch die 50 Kilometer Gegenwind das Arc-Tal hinunter irgendwie hinter mich gebracht hatte.

|Galerie im Isere-Tal
|Anstieg zu Col de l'Iseran
|Die Passhöhe

 
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 Dienstag 7. Juni | 80 km – 2.100 Hm
Die nächste Legende wartete auf mich, der 2.645 Meter hohe »Galibier«. Im Örtchen St. Michel, fand sich das mit Abstand schlechtesten Hotel meiner Tour und so war der Aufstieg vom 500 Meter tief gelegen Tal zum 1.566 Meter hohen »Télégraphe« eine Art Reinigungsritual und Versöhnung mit der Welt. Von dort ging es hinunter nach Valloire (1.400 m), dem eigentlichen Ausgangspunkt zum »Galibier«. Unzählige »Töffs« bollerten mal wieder während meiner Pause durch den Skiort, denn die »Grandes Tour« ist schließlich und leider eine Töff-Tour. Ab Valloire geht die Straße, erst einmal dem Fluß folgend, streng nach oben. Die Langschaft ist traumhaft, zumal die Sonne vom blank geputzten Himmel scheint und bester Dinge schaukelte ich nach oben. Am Talschluss geht es dann in Kehren mehrere Geländestufen zum Teil steil nach oben und spätestens hier auf 2.300 Meter machen sich der frühe Tourtermin und somit die fehlenden Trainingskilometer wiedermal schmerzhaft bemerkbar. Aber das Wetter ist schön – wenn auch kalt – und so komme ich dennoch ganz passabel auf der Passhöhe an, wo ich die »Gleichgesinnten« mit Ihren obligatorischen Matrialwagen treffe. Die Aussicht auf die verglescherte la Meije ist grandios, wie die Abfahrt zum 2.000 Meter hohen Col Lautaret. Von dort gehts rasant, weil ausnahmsweise mit Rückenwind, ins sehenswerte und charmante Garnisionsstädtchen Briancon wo ich ein ausgesprochen nettes Hotel finde, das meinen Glauben an die französische Kultur wieder herstellt.

|Blick auf das Arc-Tal
|Abfahrt vom Galibier
|Die Gletscher der Meije

 
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 Mittwoch 8. Juni | 112 km – 2.400 Hm
Direkt am Stadtrand von Briancon beginnt an einem Kreisverkehr der »Izoard« (2.360 m), ein Vorzeigepass, denn es führt sogar ein Radweg hinauf. Einsam ist er, denn nur ein paar kleine Dörfer liegen auf der Strecke und so haben wir Radfahrer diesen Pass für uns allein. Ein wunderschöner Pass, der von Anfang an durch traumhafte Landschaft führt, nur 15 Grad wärmer könnte es auf der Passhöhe sein, und so sammeln sich alle Radler im Windschatten einer Hütte – das Passfoto fällt aus. Da fällt der Col de Vars doch etwas ab, zumal man im oberen Drittel durch nicht enden wollende Ski-Geisterstädte fährt. Erst kurz vor dem Pass taucht man in eine unverbaute alpine Welt ein. Dafür ist die Abfahrtsseite sehr schön und ursprünglich und das Ubaye-Tal hat schon unverkennbar mediteranen Flair. Zwar bläst auch dieses Mal der Wind stramm von vorne dafür entschädigt das quirlige Barcelonnette mit seinem fast schon provencalischen Charme und Licht.

|Berühmtes Motiv der Tour de France
|Nummer 2: Col der Vars
|Landschaft am Col de Vars

 
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 Donnerstag 9. Juni | 89 km – 1.700 Hm
Der Morgen ist wolkenverhangen, kein gutes Omen, wenn man auf 2.800 Meter hinauf möchte. Aber der Wetterbericht verspricht Sonne und so rolle ich nach Jausiers zurück, dem Einstiegsort zum »Restefond«. Der rein militärisch begründete Pass führt in eine mehr oder weniger menschenleere Bergwelt hinauf und dementspechend sind nur eine Handvoll Touris und die obligatorischen Motorradfahrer unterwegs. Zügig schraubt sich die erstklassige Straße in die Almregionen hinauf, um auch diese dann bald schon hinter sich zu lassen. Ich merke zwar, dass ich jetzt den fünften Tag unterwegs bin, aber die Landschaft wird mit zunehmender Höhe immer eindrucksvoller und grandioser, so dass ich die Schmerzen in den Beinen vergesse. Ich durchquere einen imposanten Kessel, der von unzähligen murmelnden, rauschenden und plätschernden Bächen durchzogen ist, die so feinen Blumen auf den Wiesen bilden den Kontrast zu der Schroff- und Wildheit der Berge. Ich fahre wie in Trance und erst das alte Fort erinnert an die gewalttätige Vergangenheit und den militärischen Ursprung der Straße. Jetzt sehe ich auch die Passhöhe und, dass die »Schleife« auf 2.802 Meter hinauf noch nicht geräumt ist. Gück gehabt ;-) Die Passhöhe (2.715 m), mehr eine Scharte im mit Bunkern durchzogen Bergkamm, ist ausgesprochen nüchtern – ein lappidares Schild »Nice« das wars. Und dann gehts auf abendteuerlich engen und teils grottenschlechten Straßen hinunter und hinunter… ins Tinee-Tal bis nach St. Sauveur (500 m), wo es dann kräftig anfängt zu regnen.

|Serpentinen am zum Restefonde
|die Passhöhe in Sichtweite
|Unendliche Abfahrten hinunter ins Tinèe-Tal

 
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 Freitag 10. Juni | 90 km – 2.800 Hm
Von St. Sauveur ist es eigentlich nur noch ein Katzensprung bis Nizza, aber da mein Flieger erst Montag geht, beschließe ich noch eine Runde durchs Mercantour und Haut Verdon zu drehen, zumal heute wieder die Sonne vom Himmel stahlt. Von St. Sauveur klettere ich auf wunderschönen und einsamen Straßen zum Col de la Couillole (1.678 m) hinauf, um von dort schließlich, mit einigen Aufs und Abs, in Valberg zu landen, einem Skiort mit spektakulärer Aussicht auf das Haut Verdon. Flott gehts dann hinunter in das nette Guillaumes (798 m) im Var-Tal. Für 10 Kilometer bleibe ich in diesem wunderschönen Tal, um dann in St. Martin zum Col des Champs (2.045 m) abzubiegen. Ein Fehler, denn der Pass ist ziemlich anstrengend zu fahren, ohne neue Landschaftseindrücke und zu allem Überfluß war die Abfahrt nach Colmars ins Verdon-Tal die reinste Tortour. Schneller wie 30 Km/h war nicht drin, die Magura-Bremsen verrichteten Schwerstarbeit. Colmars ist wie Briancon eine Vauban-Stadt, also mehr Festung wie Stadt, aber ganz nett für einen halbstünden Spaziergang. Das einzig offene Hotel ist wiedermal so ein trübsinniger Kasten, den man nur mit der Gewissheit des Weiterfahrens am nächsten Tag erträgt. Vielleicht wäre der direkte Weg nach Nizza doch der bessere gewesen.

|einsame Straßen zum Col de la Couillole
|Rast auf 1.400 Meter Höhe
|Der letzte Pass über 2.000 Meter

 
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 Samstag 11. Juni | 140 km – 1.300 Hm
Ein ganz ungewöhnlicher Einstieg in den Tag, 15 km flach dahingleiten. Erst als ich das Verdon-Tal verlasse gehts nochmals auf 1.431 Meter hinauf, aber sanft in gleichmäßiger, flott zu fahrender Steigung. Auf der anderen Seite tauche ich dann in die so typische Landschaft der südfranzöschischen Karstgebirge ein. Kaffeepause in Annot – das Städtchen wird beherrscht von einer geruhsamen Umtriebigkeit. Man trifft sich nach den Wochenendeinkäufen in den Cafés und genießt die Sonne und das Leben. Auch die beiden nächsten kleinen Städte Entrevaux und Puget atmen diesen Geist des Genusses und Müßiggangs. Kein Vergleich zu den Städtchen in den Bergen. Meine Route führt mich wieder hinauf zum Col de Felines (834 m) und hinein in den Microkosmos der Montagne de Cheiron. Lieblich und schroff zugleich, abgelegen und dennoch nur ein paar Kilometer Luftlinie zum Meer. Auf verträumten Straßen lasse ich mich treiben und mit einem gewissen Grauen denke ich an den Trubel unten am Meer. Von Roquesteron führt mich die Straße nochmals hinauf auf 600 Meter. Die nächsten 25 Kilomter hält die kleine Aussichts-Straße diese Höhe um dann völlig unvermittelt nach einer Kurve den Blick auf das völlig zugebaute Var-Tal und das Mittelmeer frei zu geben. Nach weiteren 20 Kilometern stehe ich auf dem Kiesstrand von St. Laurent und fühle mich wie ein Außerirdischer, der am liebsten auf dem Hinterreifen kehrt machen würde… Erst am nächsten Tag als ich durch Nizza streife – ein ganz faszinierendes Ziel – kommt ein warmes und gutes Gefühl, Angesichts des Erlebten und Geleisteten. Und chapeau vor meinem 63-jährigen Vater.

|Puget im Var-Tal
|Irgendwo im Nirgendwo
|Das Meer

 
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 Resumee
Eine schöne, teils grandiose Tour für all Diejenigen, die eine sportive Herausforderung suchen. Nichts zum Seele baumeln lassen, da eignen sich die südfranzösischen Mittelgebirge besser dazu oder man nimmt sich deutlich mehr Zeit. Wer freier in seiner Terminwahl ist, sollte später fahren. Die Kälte über 2000 Meter hat mir oft zu schaffen gemacht. Unbedingt zu meiden ist die französische Ferienzeit. Das denkbar beste Rad für die Tour ist ein velotraum »speedster«, in jedem Fall ein Rad mit Rennlenker, für schwere Kerle am Besten mit einer HS 66-Bremse. Spätestens bei den Abfahrten, wenn man abgekämpft, verkrampft und kalt zu Tal rauscht, lernt man die hohen Steifigkeitsreserven sehr zu schätzen. Ich hatte 10 - 12 Kilogramm Gepäck dabei, wer gut trainiert ist oder wie ich überwiegend im Wiegetritt fährt, kommt durchaus mit einer 38/28 Übersetzung aus. Ich hatte während der ganzen 800 Kilometer langen Tour keine einzige Panne und die einzige Wartungsarbeit, war das einmalige Nachpumpen des Reifendrucks.

|Nizza
|Radweg bei St. Laurent
|Stiener "Junior" mit Meer und Palme

 
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